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Leukämie "von außen"

Am Tag vor der Blutuntersuchung im Klinikum Mannheim kauften wir noch einen Schlafanzug, weil es „ja sein könne, dass Dieter eine Nacht im Krankenhaus verbringen müsse“– so der Hausarzt.

In Wirklichkeit fuhr ich alleine nach Hause und Dieter blieb die nächsten 5 Wochen im Krankenhaus.

Dieter wurde vom Erdgeschoss in das 4.OG gefahren, auf die Leukämiestation – das alles konnte nur ein großer Irrtum sein! Wir saßen sprachlos am Freitagnachmittag vor Fasching im Krankenzimmer und gingen davon aus, dass Dieter innerhalb von Tagen wieder zu Hause sein würde. Der Apparat lief an, am Aschermittwoch wurde uns von zwei Ärzten die Diagnose „Akute Myeloische Leukämie“ ( AML) mitgeteilt. Alles, was mir dazu einfiel, war langes Siechtum, denn ich kannte Leukämie nur im Zusammenhang mit Verstorbenen. Ich wusste, wir alle würden Durchhaltevermögen brauchen, nichts, was in wenigen Wochen erledigt wäre. Wir hatten keine Ahnung, was auf uns zukommen würde.

Ich telefonierte mit unseren Söhnen und mit unseren Familien. Für alle Gruppen unseres großen Freundes-, Bekannten-, und Verwandtenkreises suchte ich eine Person aus, die sämtliche weitere Telefonate übernahm. Ich hätte nicht mit allen telefonieren und immer wieder das Gleiche erzählen können. Diese Regelung behielten wir bei, bzw. Dieter freute sich auch über Anrufe – so kam sein Handy zum Einsatz, das normalerweise ausgeschaltet ist.

Wir kontrollierten unser Testament, wir füllten für uns beide die Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten aus und gaben diese im Krankenhaus ab.

Unsere Jungs kümmerten sich sehr mit ihren Freundinnen, sie kamen regelmäßig aus Aachen, was einen ziemlich großen Aufwand für sie bedeutete.

Wir checkten unsere Finanzen und die Berufsunfähigkeitsversicherungen von Dieter und beschlossen, unsere Mitarbeiter zu entlassen. Bei Dieter war es klar, dass er sich nicht mit dem Büro belasten sollte und für mich war klar, dass ich keine Vollzeitarbeit ausüben wollte, ich brauchte die Zeit mittags, um ins Krankenhaus zu fahren und später, um Luft zu haben für die Betreuung zu Hause.

Außerdem kamen mir alle Aufträge, die ich sonst gewissenhaft und zuverlässig erledige, banal vor. Es war mir egal, welcher Handwerker wie arbeiten sollte und welcher Kram zu erledigen war. Es kümmerte mich nicht. Ich sagte alle neuen Aufträge ab und konzentrierte mich auf das Abarbeiten der laufenden Projekte. Das war schwierig. Mir fehlte für alles die Zeit. Ich wollte spätestens um 13.00 Uhr nachmittags ins Krankenhaus fahren und hatte morgens nicht genügend Zeit, alles zu organisieren und zu kontrollieren.

Von den 5 Personen, die Dieter besuchen durften, entschieden wir uns für Freunde, die ihm gut tun würden, Freunde, die mitten im Leben stehen und das Leben ins Krankenhaus bringen würden. Freunde, die auch schlechte Zeiten durchstehen und die langen Atem mitbringen würden. An 5 Tagen in der Woche war ich im Krankenhaus, die anderen beiden Tage kam jeweils ein Freund. Die Freunde haben sich mit einem Doodle Kalender selber abgesprochen und organisiert, Erkältungen und Urlaube eingeschlossen.

Ich versuchte, nachmittags möglichst lange im Krankenhaus zu bleiben, wir unterhielten uns über unser Leben, über alles Mögliche, manchmal spielten wir ein Spiel, es war in der Regel 20.00 Uhr oder später, bis ich zu Hause wieder ankam. Ich war platt, hatte auch keine Lust, noch was zu kochen für mich oder zum Mitnehmen für Dieter.

Wir - die Kinder mit ihren Partnerinnen und ich - lasen uns entlang, Dieter war noch nicht soweit. Ich fand kaum Erfahrungsberichte, der aktuellste datierte von 2012, da war die eigentliche Behandlung aber schon Jahre vorbei.

Das ist einer der Gründe, warum wir schreiben – wir wollen anderen Mut machen und erzählen wie es lief.

Es fühlte sich alles verkehrt an, es war so viel zu organisieren und zu erledigen, die Zeit raste weg, es blieb viel Unerledigtes auf der Strecke. Andererseits war es natürlich gut, dass die Zeit schnell verging, es entwickelte sich ein neuer Alltag.

Wir suchten eine ganze Fotogalerie von Familienfotos aus und beklebten eine Scheibe im Krankenzimmer damit, wir versuchten alle möglichen Unterhaltungsformen im Krankenhaus zu ermöglichen mit Internetzugang – damals ohne Wifi auf der Station und Hörbüchern und Filmen. Das war für Dieter egal, er nutzte es nicht. Schlussendlich muss jeder selber entscheiden, was er - auch eingesperrt - unternehmen will oder nicht.

Ich finde, es ist wichtig, als Angehöriger verschiedene Möglichkeiten zu bieten, der Kranke kann das nicht unbedingt selber tun.

Ich habe die ersten Tage damit verbracht, abends kurz vor Ladenschluss alle Schlafanzüge zu kaufen, die Dieter passen würden, die Wäsche aufzustocken, jede Menge weiße T-Shirts mit Rundhalsausschnitt zu kaufen – für jeweils eine Garnitur pro Tag.

Das Essen war für ihn ungenießbar und jeder nimmt unglaublich viel ab. Aus dem Grund bat ich meine Freundinnen, jeweils eine Essensportion für Dieter mitzukochen und einzufrieren. Auf der Station wurde das Essen im Gefrierschrank aufbewahrt und zum Mittag– oder Abendessen aufgetaut und erhitzt. Das mit dem Auftauen klappte zwar nicht immer, aber oft.

Es war sehr eingeschränkt, was ich tun konnte, was wir von außen tun konnten. Der Trost war, dass Dieter immer am oberen Ende der Kurve lief, es ging ihm den Umständen entsprechend immer maximal gut – auch wenn das verhältnismäßig schlecht war. Die Unterstützung und Anteilnahme zu Hause war groß – nicht nur von Freunden und Bekannten, auch von allen, mit denen wir auf verschiedenen Ebenen zusammen arbeiten.

Irgendwie hielten wir zu Hause das Leben aufrecht, der Garten sah nicht furchtbar aus und ich erledigte eben die Sachen, die normalerweise im Laufe einer langen Ehe geteilt werden, selber, wenn nicht unsere Jungs oder meine Eltern mir halfen. Geht alles – zwar nicht so schnell und ungeübt, aber auch Frau kann einen Rasenmäher oder Hochdruckreiniger bedienen, wenn es sein muss.

Ich hatte Dieter ins Krankenhaus ein leeres Buch mitgebracht mit der Bitte, dass er – auch wenn es noch so übel wäre – jeden Tag drei positive Erlebnisse aufschreiben sollte. Das hat er zwar nicht getan, aber dafür über sein Leben nachgedacht, über das, was gut war, auch wenn immer das Damoklesschwert über uns hing, dass wir den Traum, auf eigenem Kiel die Weltmeere zu bereisen, nicht würden leben können.

Die erste Chemowelle ging vorbei, ein Pfleger sagte eines Tages: „ Dieses Jahr können Sie abschreiben, aber wissen Sie, was ist schon ein Jahr gemessen am gesamten Leben?“ Er sollte recht behalten – was ist schon ein Jahr, wenn man es überlebt. Dieter durfte nach vergleichsweise wenigen Wochen das Krankenhaus verlassen. Zu Hause machten wir regelmäßig Spaziergänge, ich entschied mich, das Buch über Leukämie von Guido Westerwelle zu kaufen – es wurde uns empfohlen von verschiedenen Seiten.

Nur leider kam die Nachricht vom Tod Westerwelles in den Nachrichten, als wir eigentlich auf dem Weg vom Spazierengehen zur Buchhandlung waren. Das ließ ich ausfallen, kaufte später das Buch und las es. Den Schluss habe ich für uns nicht in Betracht gezogen – es ging aber Dieter zu allen Zeiten wesentlich besser als Guido Westerwelle mit der gleichen Therapie.

Wir setzten alles daran, Dieter fit zu machen für die nächste Runde, wir waren sogar ein paar Tage in Italien, haben unser Schiff besucht, waren vor Beginn der Saison in der Sonne, alleine in den Cafés und Restaurants, die schon geöffnet hatten.

Ohne großes Aufsehen zu erregen – sozusagen im Vorübergehen - wurde ein Spender gesucht. Dieters Schwestern wurden typisiert und keine passte, unsere Jungs wurden typisiert und passten beide, wenn auch nur habloidentisch, einen fremden Spender gab es nicht. Die erste Wahl sind die Geschwister, die zweite Wahl ein Fremdspender, der zu 100% passt und zuletzt kommen die habloidenten Kinder - „ das muss nicht schlechter sein“, O-Ton Dr. Klein.

In Wirklichkeit ist es wohl so, dass noch nicht in allen Transplantationszentren mit habloidenten Spendern transplantiert wird. Dankbar mussten wir erkennen, dass Dieter glücklicherweise erst 2016 erkrankt ist, 3 Jahre vorher hätte er ein Problem gehabt, denn es gab keinen Fremdspender und noch nicht die Möglichkeit der habloidenten Spende. Die Wahl fiel auf Jonas, weil Daniel eine Erbkrankheit hat, die aus meiner Linie kommt und die Dieter dann ebenfalls neu bekommen hätte.

Die Entscheidung lag nicht bei uns und überhaupt finde ich es beruhigend, dass die Therapien standardisiert sind. Keine Ermessenssache der einzelnen mehr oder weniger fähigen Ärzte sondern Ergebnis von gemeinsamen Forschungen. Wobei die Ärzte im Leukämiezentrum Mannheim sehr fähig sind. Wir haben uns immer gut aufgehoben gefühlt, wir waren uns sicher, dass sie genau wissen, was zu tun ist, mit unglaublichem Feintuning für die jeweilige Situation.

Sie kämpfen immer und verlieren oft, das muss man erst mal ertragen. Als Außenstehender kann es auch vorkommen, dass man den Tod bei anderen mitbekommt – er gehört auf der Station dazu.

Zu Beginn der zweiten Runde wollten sie von mir die Handynummer – es war klar, jetzt wird es ernst. Es war klar, dass sie nicht wussten, wie Dieter die Transplantation überstehen würde und es hätte sein können, dass man mich zu irgendwelchen Tages- oder Nachtzeiten hätte erreichen müssen. Wir wussten, es würde schwierig werden. Das Handy lag eingeschaltet neben meinem Bett.

Die Transplantation selber ist völlig unspektakulär – im Prinzip wie eine Bluttransfusion. Die Bestrahlung und die Chemos vorher, bei denen das Knochenmark zerstört wird, sind die Vorbereitung, ich stellte es mir vor, wie eine Organentnahme. Wenn alles zerstört ist, gibt es nur noch den Weg nach vorne. Die Behandlung ist eine Einbahnstraße, es gibt kein Zurück.

Der Tag 0 wurde festgelegt auf den 27.4.16 und dann kurzfristig um einen Tag verschoben, weil Jonas eine andere Blutgruppe hat und das Knochenmark noch präpariert werden musste. Jonas war ziemlich fertig nach der OP – 50 Einstiche im Beckenkamm, 1,5 Liter Knochenmarkentnahme. Ich durfte bei der Knochenmarkstansplantation dabei sitzen und die Hand halten, Dieter schlief weg.

Später ging ich ans andere Ende des Klinikums zu Jonas, er hatte einen Kreislaufzusammenbruch. Ich saß noch bei ihm im Zimmer, wir schauten zusammen eine DVD an, ich kam spät abends nach Hause und war alle. Jonas blieb ein paar Tage zu Hause und Dieter hatte überhaupt keine akuten Abwehrreaktionen, zum Glück. Nicht sofort und auch nicht während der kritischen 100 Tage.

Ohne die gesamten Zusammenhänge einer Stammzelltransplantation richtig zu verstehen, erkannten wir aber, als Dieter die Blutgruppe gewechselt hatte, dass dies normalerweise bei gleichzeitig zwei Blutgruppen im Körper ein Problem ist. Ein Problem, das wenigstens so lange dauert, bis das letzte „alte“Blut erneuert ist – etwa 100 Tage. Wir warteten – die ersten Anzeichen von neu arbeiteten Stammzellen zeigten sich nach etwa drei Wochen. Dieter litt oft unter Übelkeit, Essen zu sich zu nehmen bedeutete eine riesige Hürde. Kein Wunder, hatte er doch noch nach der Transplantation weitere Chemos erhalten, um das Problem mit habloidenten Zellen in den Griff zu bekommen.

Wenige Wochen später durfte Dieter wieder nach Hause, mit einem Katalog an Verhaltensregeln. Wir hielten uns daran – die Freunde besuchten uns und die Eltern, sonst niemand. Alle mussten sich die Hände waschen, er berührte niemanden. Essen blieb ein Problem – vieles von dem, was ich kochte, konnte er nicht essen, manchmal wurde ihm schon vom Geruch schlecht, auch wenn er vorher auf bestimmte Speisen Appetit gehabt hatte.

Am Schwierigsten fand ich die Tatsache, dass er seine gesamten Lieblingsspeisen nicht essen durfte, keine rohen Sachen, keine Salami, Schinken, Camembert, nichts Ungeschältes, alles maximal 24 Stunden alt. Wir nutzten intensiv unseren Gefrierschrank, holten einzelne Scheiben Brot heraus, kleinste Portionen Essen, alles immer frisch eingefroren, um die 24 Stunden einzuhalten. Verschärfend kam hinzu, dass er im Krankenhaus eine Abneigung gegen die typischen Kleinpackungen Marmelade, Frischkäse, Butter etc. entwickelt hatte, mit denen die 24 Stunden Regel einfacher einzuhalten gewesen wäre. Also kochte ich Marmelade in kleinen Gläsern und verbrachte Stunden im Supermarkt, um die Kleinstpackungen zu finden, die nicht nach Krankenhaus aussehen, weil ich immer den Rest essen musste.

Es war auch für mich frustrierend manchmal.

Wir versuchten wieder spazieren zu gehen, am Anfang nur wenige 100 Meter, ebene Flächen, von Bank zu Bank – im Schatten oder verhüllt und mit Hut. Alles, was wir normalerweise im Sommer unternehmen, funktionierte nicht. Keine Feste, kein Treffen mit Freundesgruppen, kein Eis in der Fußgängerzone, kein Essen auf dem Marktplatz, kein Motorradfahren, kein Fahrradfahren, kein Segeln, kein Urlaub. Aufenthalt zusammen mit anderen Menschen war nicht möglich, wir hätten kein öffentliches Verkehrsmittel nehmen können, kein Flugzeug, kein Hotel, keine Gaststätte, kein öffentliches WC.

Der Sommer komplett ohne Urlaub war lang. Mit Mundschutz wäre mehr möglich gewesen, aber das wollte er nicht.

Motorradfahren ging körperlich nicht, er konnte sein schwere Maschine nicht halten. Ich stellte die Bedingung, dass er, bevor er wieder anfangen würde zu fahren, die Maschine auf den Hauptständer stellen müsse. Also hat Dieter geübt, bis es im September wieder soweit war. Wir unternahmen kleine Touren, nach maximal 1 Stunde Fahrzeit legten wir eine Pause ein.

An seinem Geburtstag Ende Juli lieh ich mir das Cabrio von meinen Eltern und schenkte ihm einen Tag an der Mosel, mit Besuch auf der Burg Eltz, mit Picknick an der Mosel. Man muss erfinderisch werden, wenn die Dinge, die üblicherweise zum Alltag gehören, wie Ausflüge und Essen gehen, nicht möglich sind.

Dieter war im Sommer völlig vergreist, es gab Zeiten, da hätten ihn die Leute auf der Straße nicht mehr erkannt- 20 Jahre gealtert, grau im Gesicht mit fahlen Augen. Im September kam die Augenfarbe wieder und von da an ging es zügig bergauf.

Am Anfang versucht man, körperlich wieder fit zu werden, aber der Mensch verändert sich nach so einer Prozedur. Nicht nur körperlich. Die Reaktionen sind andere als vorher oder verstärkter als vorher in alle Richtungen. Als Angehörige ist das nicht zu verstehen, man kann es nicht nachfühlen und nicht einordnen. Man kann ja auch nicht sicher sein, dass es wieder so wird wie vorher.

Wird es nicht.

Vorwürfe, schlechte Laune, Ungeduld, Gereiztheit, keine Frustrationstoleranz, all das, was dem Kranken im Leben negativ erscheint, kann ungefiltert und ungepolstert von Höflichkeit daherkommen. Ganz schön hart manchmal.

Als Angehörige hat man nur die Möglichkeit, den Augenblick mit zu leben, auch wenn das Ende nicht gewiss ist, den Augenblick so angenehm wie möglich zu machen. Man muss sich selber Reserven lassen, Luft nach oben für Zeiten, die noch härter werden, als die, die man gerade erlebt - in der Hoffnung, dass die guten Zeiten wieder kommen. Am Ende des Jahres hatte ich keine Stimme mehr, Herzflimmern und regelmäßig das Gefühl, es würde mir jemand den Ton in den Ohren abschalten. Überlastung – die Zeit ging vorbei.

Im April begannen wir mit einer kleinen Segeltour nach Venedig mit unseren Kindern und deren Partnerinnen. Ein Anfang. Seitdem sind wir in Etappen die Adria entlang gesegelt, um den italienischen Stiefel herum, über Malta, Sizilien nach Sardinien.Das Leben auf dem Boot ist geprägt vom normalen Alltag mit Haushaltsführung, Putzen, Waschen etc. und dazwischen mit Kunst und Kultur und Segeln und Träumen.

Wir lassen jeder für sich das Jahr 2016 bis jetzt vorüberziehen und sind dankbar dafür, dass alles so gut geworden ist.Wir sind dankbar für die fähigen Ärzte und Mitarbeiter auf der Leukämiestation in Mannheim und sind allen dankbar, die uns während des gesamten Jahres auf unterschiedlichste Art und Weise unterstützt haben.